Orientation und Welcome-Fair

Donnerstag, 14.01.16, 08:00 Uhr. Der Wecker klingelt. Ich will nicht aufstehen, es ist stockduster und kalt. Ich ziehe die Decke über meinen Kopf und gucke auf Facebook nach, wann ich wo sein muss. Der Welcome-Fair beginnt um 10:00 Uhr, gut, dann ist ja noch Zeit… oder? Unter der Veranstaltung lese ich einen Kommentar von einer Person, die ebenfalls ein ERASMUS-Semester an der Science-Faculty verbringt: Zeitgleiche Veranstaltung der Fakultät, „not-to-miss“, Start 9:00 Uhr. Fuck. Ich springe aus dem Bett, direkt ins Bad, es ist eiskalt, hier gibt es keine Heizung, die Warmwasserrohre sollen das wohl erledigen. Die Dusche hat keinerlei Wasserdruck und wird nicht richtig warm… denke ich zumindest, habe mal wieder das System nicht verstanden. Für einen guten Start in den Tag… dann finde ich die Knöpfe, die eine Art Kinder- (bzw. Idioten-) sicherung lösen und Wasserdruck sowie wunderbar warmes, geradezu heißes Wasser in der Dusche ermöglichen. Besser. Abtrocknen, anziehen (ich habe gelernt: lange Unterhose, dicke Socken, Pullover), schnell ein Pulla runtergewürgt und mit dem Saft runtergesp…. OH MEIN GOTT. Mit Saft hat das wenig zu tun. Mit viel Phantasie vielleicht Eistee. Unfassbar süß. Mit dem Zeug könnte man Diabetiker lähmen, eventuell sogar direkt umbringen. Hälfte wegkippen, mit Wasser auffüllen, einpacken, ein Pulla für den Weg und ab zum Bus. Die Bushaltestelle im Hellen zu finden ist eine Sache von 5 Minuten, gestern habe ich für dieselbe Strecke über eine halbe Stunde gebraucht. Die Linie fährt direkt zur Uni, bzw. dem Kumpulan Kampus.

Um 9:45 Uhr betrete ich das Unigebäude und laufe einem freundlichen Tutor in die Arme, der mir weiterzuhelfen versucht. Meine Kommilitonen haben den Raum allerdings bereits verlassen und werden von einer Tutorin über das Campusgelände geführt, diese Tour habe ich demnach verpasst. Nach einigem hin und her findet mein Retter den Raum, an dem es um 10:00 Uhr weitergehen soll und setzt mich dort ab. Wenig später kommt eine kleine Gruppe verplant aussehender Menschen angeschlappt, ich bin am Ziel. Als ich sage wer ich bin, kommt eine freudestrahlende, blonde Person in einem grünen Schneeanzug mit zig aufgenähten Stoffabzeichen, ähnlich einer Pfadfinderuniform, auf mich zu und berichtet, dass man mich bereits vermisst habe und wir nun komplett seien. Ihr Anzug würde jeden Fachschaftler vor Neid erblassen lassen, keine schnöden T-Shirts, hier erkennt man die Tutoren schon von weitem. Geo trägt grün, Mathe rot, Physik gelb, usw. Sie stellt sich als Jenni Lintunen vor und wird uns den restlichen Tag durch die Stadt führen und alles Organisatorische mit uns erledigen.

Zunächst stellt sich aber unsere Ansprechperson für alle universitären Belage, Mia Kotilainen vor. Es folgt eine kurze Vorstellungsrunde der Kommilitonen, besonders viele sind wir aber nicht: Jerome und Cyprien aus dem französischsprachigen Teil Belgiens, Simone (spricht sich ßimonn und ist männlich) und Ingrid aus Italien, Martin aus Tschechien und Jenna aus Kanada. Schnell wird klar: Die werde ich in der Uni in keinem einzigen Kurs wiedersehen. 3 Geologen und 3 Löks, wenn man so will. Praktisch hingegen: wir wohnen alle (bis auf Jenna und die wohnt nicht weit weg) in der Vuolukiventie 1b. Mia erklärt uns was sich hinter welchen Kursen verbirgt, wie man sich anmeldet, welche Kurse neu dazugekommen sind und, dass es völlig in Ordnung sei, wenn wir unser Learning-Agreement mehrfach ändern. Klingt soweit gut. Die tatsächliche Kurswahl steht aber erst am nächsten Tag auf dem Programm. Uns wird eingebläut, wie wichtig aktive Kursteilnahme und wie anspruchsvoll die Exams seien.

Nachdem Mia ihren Vortrag beendet hat, ziehen wir mit Jenni los. Als wir das Gebäude verlassen, wimmert Jerome neben mir. Ich habe noch nie einen Mann getroffen, der so schnell friert. Obwohl wir nur knapp 100m an der frischen (zugegebenermaßen kalten) Luft sind, zieht er sich an, als müsste er den Nordpol erforschen. Jenni ist das exakte Gegenteil. Sie läuft den gesamten Tag ohne Mütze herum, für den kurzen Weg wirft sie nicht einmal ihre Jacke über.

Die erste Station ist das Gebäude des Unisports auf dem Campus. Wir bekommen die Kletterhalle, die Ballsporthalle, das Fitnessstudio und den Gruppentrainingsraum gezeigt. Natürlich darf auch die Sauna nicht fehlen, hier gibt es zwei, eine für Männer und eine für Frauen. Die Benutzung der Räume kostet für das Spring-Semester 72€, was, angesichts finnischer Preise, ein wirklich gutes Angebot zu sein scheint. Möchte man es allerdings nicht in Eigeninitiative, sondern angeleitet durch einen Trainer nutzen, kommen weitere Kurskosten auf einen zu. Na mal sehen.

Nächster Schritt: Essen. Ein kleiner Einwurf: Auf dem Campus findet gerade ein mehrtägiger Geologenkongress statt. Betritt man das Hauptgebäude trifft man auf geschäftig wirkende, meist bärtige Menschen in typischer Steineklopfer-Optik und: ein riesiges Frühstücksbuffet. Die Vermutung (bzw. der Wunsch), dass wir dort durchgeführt werden liegt also nahe. Jerome reibt sich in freudiger Erwartung die Hände, er hat das Frühstück ausfallen lassen und ist hungrig wie ein Bär. Aber weit gefehlt. Es ist 11 Uhr. Gestern war es um diese Zeit noch 10 Uhr. Wir gehen in die Mensa.

An der Tür hängt ein Menü, dass wir allerdings nicht verstehen und, nachdem wir den Betrieb ca. 5 Minuten aufgehalten haben, auch nicht mehr verstehen wollen und essen was auf den Tisch kommt. Es gibt Reis, Fisch und Tomatensoße. Finnen frühstücken scheinbar anders. Es ist ein raues Land, hier muss man sich seinen Winterspeck anfressen. Oder so. Zu trinken gibt es Lebertran, um uns für das Holzblöcke spalten mit der finnischen Fiskars-Axt zu stärken. Ach komm, glaubt ihr mir ja doch nicht. Es gibt Wasser aus dem Hahn, Milch oder eine Art Saft in einem Krug. Ich probiere den Saft (ja, ich weiß, ich bin nicht lernfähig). In meinem Kopf explodiert der Zucker, ich schmecke Farben und höre Stimmen. Scheinbar eine Art Sirup, großzügig mit Wasser zu verdünnen. Ich gehe auf Klo und pinkele einen Regenbogen.

Nach dem Essen ist die Campusführung beendet. Wir laufen zur Tram-Haltestelle und fahren ins Stadtzentrum, zum Welcome-Fair. In der Zentralbibliothek wird ein kurzer Zwischenstopp eingelegt. Sehr schick, zig Etagen in stylischem Design, dazu reservierbare Arbeitsräume, für die man einen eigenen Schlüssel bekommen kann, um auch nachts arbeiten zu können. Durch ein gläsernes Gängesystem gelangen wir über einen Lichthof zum Gebäude, in dem der Welcome-Fair stattfindet. Dieser ist wirklich gut organisiert, man kann an einem Ort alle Formalia die Uni hinter sich bringen. Es herrscht großer Andrang. Wir werden mit Geschenken begrüßt, ein Hipster-Turnbeutel in frei wählbarer Neonfarbe mit Logo der Helsingin Yliopisto (ich wähle grün), ein farblich passender Wasserschlauch (kann auch mit Lebertran oder Zuckersirup befüllt werden), ein Campus-Plan und die Bibel für den Neuankömmling, das Orientation-Handbook. Anschließend handeln wir ein 9-schrittiges Programm ab, dass aus wichtigen Tätigkeiten wie Einschreibung, Beantragung der Travel-Card, Erhalt der Nutzerkennung, Informationen u finnisch-Kursen, uvm. besteht… uuuund natürlich dem Werben verschiedener Organisationen um unser Geld. Join the student nation! Travel with ESN! Get your prepaid-mobilphone! Das volle RyanAir-Programm. Jenni lässt uns viel Zeit bei den wichtigen Dingen und versucht uns heldenhaft aus den Tentakeln der Organisationen zu befreien. Nach ca. 2 Stunden verlassen wir den Welcome-Fair, um unsere beantragte Travel-Card abzuholen.

Eine kurze Stadtführung durch die Haupt-Einkaufsstraße später stehen wir in einem beengten, unterirdischen Reisezentrum des hiesigen ÖPNV-Anbieters HSL. Leider nicht allein, wir müssen eine Nummer ziehen, ca. 30 Leute warten vor uns. Alles in allem aber ein gut organisierter, flotter Laden, ca. 15 min. später bin ich an der Reihe und leiste mir prompt einen Fehltritt: Zwar sehe ich, dass meine Nummer aufgerufen wird, finde aber nicht den entsprechenden Counter, da dessen Anzeigetafel durch eine Säule verdeckt wird. Als ich ihn schließlich finde, hat die freundliche Trollfrau hinter dem Tresen bereits die nächste Nummer aufgerufen. Ich werde bedient, aber als die Besitzerin der nächsten Nummer hinter mir erscheint, grunzt Troll-Hilda: Do you have the number 92? Sorry, you have to wait, HE (nickt abfällig in meine Richtung) was late. Ich entschuldige mich erneut und erhalte zum Preis von 26€+5€ fürs Plastik meine Monatskarte.

Anschließend trennt Jenni sich von uns, wir verlassen die Unterführung und planen unser weiteres Vorgehen. Somebody up for a drink? 7 Arme werden in die Luft gestreckt. BIER also. Martin erblickt eine tschechische Bar, die (?) Vltava und schleppt uns alle in deren Richtung. Maybe there are people, who understand me. I’ve read a guide, that you can get beer for 3 euros there. Ich bin skeptisch. Der Laden sieht fancy aus und liegt in bester Tourilage. Wir gehen rein, betrachten die Preistafel. Toller Guide. Wir bestellen trotzdem, 5 große und 2 kleine Pilsener Urquell. Who’s paying? fragt der Kellner. All of us. Das teuerste Bier meines Lebens, 8,50€ möchte dieser Wegelagerer von mir haben. Ich frage mich, ob Trinkgelder in Finnland üblich sind, niemand am Tisch gibt eins. Einige von uns zahlen mit der Kreditkarte. Aber es schmeckt, ein verdientes Feierabendpils. Unser Aufenthalt verlängert sich signifikant, da unsere Kanadierin ihr kleines Bier partout nicht leer kriegt. I’m not a beer-person. O’rly?

Nach der Kneipe trennen sich die Italiener von uns, sie wollen direkt nach Hause und der Rest der Gruppe will einkaufen. Jenni hatte uns noch mit auf den Weg gegeben, dass der PRISMA in Viikki die größte und günstigste Einkaufsmöglichkeit sei. Jenna wohnt in Viikki, weiß also wo es langgeht. Ich habe keine Ahnung, ob ich damit nicht in die komplett falsche Richtung fahre, aber wir fahren alle mit, dieser Gruppenzwang… Es stellt sich heraus, dass Viikki 20 Minuten zu Fuß von der Vuolukiventie entfernt und damit absolut kein Umweg ist, ich schätze, den Supermarkt sollte ich mir merken.

Das Einkaufen selbst ist eine völlig andere Sache. Der Laden ist riesig, die Produktnamen und -beschreibungen fast ausschließlich auf Finnisch und Schwedisch. Ich brauche lange, die anderen aber auch. Meine Vorräte erweitern sich um Nudeln, Pesto, Joghurt, Milch, Pfeffer, Chips, Müsli (ich bin kein Fan, aber es ist die einfachste Variante, morgens was in den Magen zu bekommen). Ich habe keine Einkaufsliste, kaufe, was mir gerade einfällt oder entgegenspringt. Auch ein weiterer, vermeintlicher Saft – Jussi –> Juice? – landet in meinem Korb. Ein kleiner Spoiler: Es ist kein Saft. Ich beschließe, für meinen nächsten Einkauf eine Liste zu erstellen. Für den Heimweg nutzen wir wieder den Bus, die Suche nach der Bushaltestelle dauert länger als die Fahrt selbst.

In der Vuolukiventie angekommen falle ich ins Bett. Eigentlich wollte ich noch die Gemeinschaftsküche suchen, Nudeln kochen, evtl. noch die anderen treffen, wenn’s ganz verrückt kommt noch die Welcome-Party im Tiger besuchen. Nichts davon geschieht. Schlafen.

 

3 Kommentare zu „Orientation und Welcome-Fair“

  1. Das größte Abenteuer von allen: Einkaufen ohne Einkaufsliste! 😀
    Quatsch, klingt alles sehr aufregend und gut! Erzähl schön weiter 🙂

    Like

Hinterlasse einen Kommentar